Die Geisterstadt

Ich heiße Elena, und ich betreibe diese Seite. Ich habe nichts zu verkaufen. Ich habe nur mein Motorrad und die absolute Freiheit, es zu fahren, wohin mich meine Neugier und der Dämon der Geschwindigkeit treiben. Diese Seite wird von der Autorin selbst aufrechterhalten. Wenn der Netzverkehr zu groß ist, kann sie gelegentlich nicht erreichbar sein.


Foto von Elena


Motorradfahren

Ich fahre schon mein ganzes Leben Motorrad, und über die Jahre habe ich verschiedene Modelle gehabt. Meine Suche nach dem perfekten Motorrad endete mit der Big Ninja. Sie hat 147 PS, ein sattes Motorengeräusch, sie ist schnell wie eine Gewehrkugel und auch auf langen Reisen bequem.

Ich reise viel, und eines meiner Lieblingsreiseziele liegt nördlich von Kiew: die sogenannte "tote Zone" von Tschernobyl, 130 Kilometer von meinem Zuhause entfernt. Warum mein Lieblingsziel? Weil man dort lange Strecken auf leeren Straßen fahren kann.

Die Menschen haben die Gegend verlassen, und die Natur macht sich breit. Es gibt dort herrliche Wälder und Seen.

Wo die Straßen nicht von LKWs und Armeefahrzeugen benutzt wurden, sind sie noch im selben Zustand wie vor 20 Jahren, abgesehen von gelegentlichen Grasbüscheln und ein paar Bäumen, die eine Spalte gefunden haben, um darin zu wurzeln. Die Zeit allein ruiniert Straßen nicht, deswegen bleiben sie, wie sie sind, bis sie wieder für den normalen Verkehr geöffnet werden... in ein paar hundert Jahren.


Karte von der Geisterstadt


Strahlung

Zu Beginn unserer Reise müssen wir etwas über Radioaktivität lernen. Es ist wirklich sehr einfach. Das Gerät zur Messung der Radioaktivität heißt Geigerzähler. Schaltet man ihn in Kiew ein, wird er ungefähr zwölf bis 16 Mikroröntgen in der Stunde messen. In einer typischen Stadt in Rußland oder Amerika hat man zehn bis zwölf Mikroröntgen pro Stunde. Mitten in vielen europäischen Städten herrschen 20 mikroR pro Stunde, das ist die Strahlung der Steine.

1000 Mikroröntgen pro Stunde = 1 Milliröntgen, und 1000 Milliröntgen = 1 Röntgen. Also ist ein Röntgen 100.000mal mehr als die durchschnittliche Strahlung einer typischen Stadt. Eine Dosis von 500 Röntgen über fünf Stunden hinweg ist für Menschen tödlich. Interessanterweise braucht es bei dieser Dosis zweieinhalb mal länger, um ein Huhn zu töten, und mehr als 100mal länger, um eine Schabe umzubringen.

Solche Strahlung kann man in Tschernobyl heute nicht mehr finden. In den ersten Tagen nach der Explosion strahlten manche Orte dicht am Reaktor mit 3.000 bis 30.000 Röntgen. Die Feuerwehrleute, die den Reaktorbrand löschen sollten, wurden an Ort und Stelle von der Gammastrahlung gebraten. Die Reste des Reaktors wurden unter einem Sarkophag aus Stahl und Beton begraben, so daß es jetzt relativ sicher ist, in diesem Gebiet zu reisen, solange man die Straße nicht verläßt und sich nicht an den falschen Orten aufhält...

Die Karte oben zeigt unsere ganze Reise durch die tote Zone. Die Strahlung ist in den Boden gegangen und findet sich jetzt in Äpfeln und Pilzen. In Asphalt wird sie nicht gespeichert, so daß Reisen durch diese Gegend möglich sind.

Ich habe noch nie Probleme mit den Dosimeter-Männern gehabt, die an den Kontrollpunkten sitzen. Sie sind Experten, und wenn sie Radioaktivität an einem Fahrzeug entdecken, dann verpassen sie ihm eine chemische Dusche. Dazu zähle ich nicht die paar Male, wo „Experten“ versucht haben, unter einem Vorwand mich zu duschen – das hatte eher was mit Biologie zu tun als mit Biophysik.

600 Jahre

Am 25. April, einem Freitagabend, bereitete die Reaktormannschaft von Tschernobyl-4 für den nächsten Tag einen Test vor, um zu sehen, wie lange sich die Turbinen noch drehen und Elektrizität produzieren, wenn die Stromversorgung ausfallen sollte. Es war ein gefährlicher Test, aber er war schon früher durchgeführt worden. Als Teil der Vorbereitung legte man auch einige wichtige Kontrollsysteme lahm - darunter die automatische Sicherheitsabschaltung.

Kurz nach 1:00 Uhr am 26. April nahm der Durchfluß des Kühlwassers ab, und die Leistung begann zu steigen.

Um 1:23 Uhr wollte der Operator den Reaktor in die niedrigste Leistungsstufe versetzen. Die vorhergehenden Fehler verursachten in einem Domino-Effekt eine enorme Leistungssteigerung, die zu einer Dampfexplosion führte, welche den 1000 Tonnen schweren Deckel des Reaktorgehäuses in tausend Stücke sprengte.

Einige der 211 Kontrollstäbe schmolzen, und eine zweite Explosion, deren Ursachen immer noch unter den Experten umstritten sind, warf Teile des brennenden radioaktiven Brennstoffkerns aus und ermöglichte damit das Eindringen von Luft. Dabei entzündete sich die Isolierung aus mehreren Tonnen von Graphitblöcken.

Wenn Graphit zu brennen anfängt, dann ist es fast unmöglich zu löschen. Es dauerte neun Tage und kostete 5000 Tonnen von Sand, Bor, Dolomit, Lehm und Blei, aus Hubschraubern abgeworfen, um das Feuer zu ersticken. Die Strahlung war so intensiv, daß viele dieser tapferen Piloten starben.

Es war dieser Graphitbrand, der die meiste Strahlung in die Atmosphäre beförderte und den beunruhigenden Anstieg der atmosphärischen Strahlung verursachte, der noch Tausende von Kilometern entfernt gemessen wurde.

Schuld waren unverzeihliche Fehler in der Konstruktion.

Die Ursachen des Unfalls werden als verhängnisvolle Kombination menschlicher Fehler und unausgereifter Technologie beschrieben. Andrej Sacharow sagte, der Tschernobyl-Unfall zeige, daß unser System nicht mit der modernen Technologie umgehen könne.

Entsprechend der langen Tradition der sowjetischen Justiz wurden einige der Leute, die während der betreffenden Schicht gearbeitet hatten, inhaftiert – ob sie nun schuld waren oder nicht. 25 Leute dieser Schicht starben.

Die Strahlung wird im Tschernobyl-Gebiet noch Zehntausende von Jahren erhöht bleiben, aber Menschen könnten schon in 600 Jahren – plus/minus drei Jahrhunderte - dieses Gebiet wieder besiedeln. Die Experten sagen voraus, daß bis dahin die meisten gefährlichen Elemente verschwunden oder ausreichend in Luft, Erde und Wasser der restlichen Welt verteilt sein werden. Wenn unsere Regierung irgendwoher das Geld und den politischen Willen zur Finanzierung nötiger wissenschaftlicher Forschung findet, dann wird vielleicht ein Weg gefunden, die Verseuchung schon früher zu neutralisieren oder zu beseitigen. Andernfalls müssen unsere entfernten Nachfahren so lange warten, bis die Strahlungswerte auf einen annehmbaren Pegel sinken. Wenn wir die optimistischste wissenschaftliche Schätzung nehmen, dann wird das in 300 Jahren sein... Andere Wissenschaftler sagen, dass es sogar 900 Jahre dauern könnte.

Ich denke, es werden 300 sein, aber man wirft mir oft vor, daß ich eine Optimistin bin.

Hinrichtungsbaum

Ich erinnere mich...

In der ukrainischen Sprache ist Tschernobyl der Name eines Krautes, Wermut (Absinth). Dieses Wort verbreitet Schrecken unter den gläubigen Leuten hier. Vielleicht zum Teil auch, weil die Bibel Wermut in den Offenbarungen des Johannes erwähnt, der das Ende der Welt prophezeit...

Offb. 8:10: Der dritte Engel blies seine Posaune. Da fiel ein großer Stern vom Himmel; er loderte wie eine Fackel und fiel auf ein Drittel der Flüsse und auf die Quellen.

Offb: 8:11 Der Name des Sterns ist „Wermut“. Ein Drittel des Wassers wurde bitter, und viele Menschen starben durch das Wasser, weil es bitter geworden war.

Wenn man das Wort auseinandernimmt, bedeutet in unserer Sprache „tscherno“ „schwarz“, und „byl“ bedeutet „Schmerz“. Wenn ich jemandem sage, daß ich nach „Tschernie“ fahre, dann höre ich bestenfalls die Antwort: „Bist du verrückt?“

Mein Vater sagt, daß die Menschen Angst vor dieser tödlichen Sache haben, die man nicht sehen, nicht fühlen und nicht riechen kann. Vielleicht weil diese Worte auch den Tod selbst beschreiben.

Mein Vater ist Kernphysiker, und er hat mir viele Dinge beigebracht. Ihm macht die Geschwindigkeit meines Motorrads mehr Sorgen als das Ziel, das ich damit ansteuere.

Meine Ausflüge nach Tschernobyl sind kein Spaziergang im Park, aber die Risiken sind kalkulierbar. Manchmal fahre ich allein, manchmal mit Sozius, aber niemals in Begleitung eines anderen Fahrzeugs, weil ich nicht will, daß jemand Staub vor mir aufwirbelt.

Im Jahre 1986 war ich ein Schulmädchen. Als die Strahlungswerte in Kiew anstiegen, setzte mein Vater uns alle in den Zug zur Oma. Oma lebt 800 Kilometer entfernt von hier, und mein Vater wußte nicht, ob es weit genug wäre, um uns alle aus der Reichweite des großen bösen Wolfs der nuklearen Schmelze zu bringen.

Die kommunistische Regierung bewahrte Stillschweigen über den Unfall. In Kiew zwang man die Leute, an der idiotischen Parade zum Tag der Arbeit am 1. Mai teilzunehmen. Zu dieser Zeit drangen die ersten Nachrichten über den Unfall zu den normalen Leuten durch – sie hörten es von ausländischen Radiosendern und von Verwandten derer, die gestorben waren. Die richtige Panik begann sieben bis zehn Tage nach dem Unfall. Diejenigen, die in den ersten zehn Tagen nach dem Unfall, als er noch Staatsgeheimnis war, den außerordentlich hohen Strahlendosen ausgesetzt gewesen waren, einschließlich ahnungsloser Besucher dieser Gegend, sind gestorben oder bekamen ernsthafte gesundheitliche Probleme.

Fahrt nach Norden

Richtung Norden.

Es ist Zeit loszufahren. Das ist unsere Straße. Wir werden nicht viele Autos auf diesen Straßen begegnen. Diese Gegend hat einen schlechten Ruf, und Menschen versuchen sich hier nicht aufzuhalten. Je weiter wir fahren, desto billiger das Land, desto weniger Leute und desto mehr schöne Natur... genau umgekehrt wie überall sonst auf der Welt... und ein Vorgeschmack auf die Dinge, die noch kommen werden.

Riesen-Ei

Als wir Kilometer 86 passieren, sehen wir ein riesiges Ei. Es markiert den Punkt, an dem die uns bekannte Zivilisation endet und die Tschernobyl-Reise beginnt.

Jemand hat das Ei aus Deutschland hergebracht. Es steht für das LEBEN, das die harte Schale des Unbekannten durchbricht. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Symbolik ermutigend ist oder nicht. Auf jeden Fall macht es die Menschen nachdenklich, und für uns ist das die letzte Möglichkeit, eßbare Nahrung, trinkbares Wasser und unkontaminierten Kraftstoff einzukaufen. Unsere Reise ist ab hier ein allmählich dunkler werdendes Bild verwüsteter Städte, leerer Dörfer und toter Bauernhöfe...

Feenland

Die Strahlung wirkte ungleichmäßig, wie auf einem Schachbrett; manche Orte blieben am Leben, andere mußten sterben. Es ist schwer zu sagen, wo das Märchenland anfängt.

Für mich beginnt es hinter dieser Brücke. Das ist ein ausgestorbenes Dorf, 60 Kilometer westlich vom Reaktor gelegen.

Ich fahre umher

Straßen, die in Orte führen, wo keiner mehr wohnt, sind blockiert.

“Abgesperrte

Die Straßen sind für Autos unpassierbar, aber nicht für Motorräder. Gute Mädchen kommen in den Himmel. Böse kommen in die Hölle. Und Mädchen auf schnellen Motorrädern kommen, wohin sie wollen.

“Hinter

“Hohle

Das ist alles, was von einem blühenden Dorf mit 4.500 Einwohnern geblieben ist. Es liegt 50 Kilometer südlich vom Ground Zero - dem Reaktor.

“Ausgestorbenes

Dieser alte Mann lebt in der Gegend von Tschernobyl. Er ist einer von 3.500 Leuten, die sich entweder geweigert haben, ihre Dörfer zu verlassen, oder nach dem Unfall im Jahre 1986 zurückgekehrt sind. Ich bewundere diese Menschen, weil jeder von ihnen auf seine Art ein Philosoph ist. Wenn man sie fragt, ob sie Angst haben, sagen sie, daß sie lieber zu Hause an Strahlung sterben wollen als an einem fremden Ort an Heimweh. Sie ernähren sich vom Ertrag ihrer Gärten, trinken Milch von ihren Kühen und behaupten, sie seien gesund... aber dieser Mann ist einer von nur 400, die bis jetzt überlebt haben. Er wird wahrscheinlich bald seinen 3.100 Nachbarn folgen, die für immer in der Erde ihrer geliebten Heimat ruhen. Es scheint, als würden hier diejenigen mit dem größten Mut zuerst sterben. Vielleicht gilt das überall.

“Dickköpfiger

Checkpoint

Hier fahren wir in das unmittelbare Gebiet von Tschernobyl hinein. Ich überprüfe die Tankfüllung und schaue nach, ob ich alles für eine Reifenreparatur dabei habe. Ich will nicht inmitten einer nuklearen Wüste liegenbleiben.

“Propaganda

Der Tank muß voll sein, denn alle Tankstellen in dieser Gegend sehen wie diese aus.

“Hier

Dies ist einer der Kontrollpunkte, die vor der toten Zone liegen. Man braucht eine spezielle Genehmigung, um hindurch zu gelangen.

“Kontrollpunkt“

Hier bekommen unvorsichtige oder unglückliche Besucher eine chemische Dusche verpasst.

“Reinigung

Jedes Mal, wenn ich in diese Zone komme, fühle ich mich, als hätte ich eine unwirkliche Welt betreten. Die Stille der Dörfer, Straßen und Wälder scheint mit mir zu sprechen... sie sagt mir etwas, das ich kaum hören kann... etwas, das mich anzieht und gleichzeitig abstößt. Es ist wunderbar schaurig - als wäre man in dem Bild von Salvador Dalí mit den tropfenden Uhren.

“Verfallendes

Ausgezehrtes Land

“Radioaktive

Radioaktive Grabstätten sind Spuren unserer Zivilisation. Einige hundert von ihnen bilden die Wüste des atomaren Ödlands, wo die Strahlung immer noch in Röntgen gemessen wird.

Eine verstrahlte technische Anlage, so weit das Auge reicht. Diese Fahrzeuge sind ein Typ Armeelaster. Die meisten von ihnen waren damals voller Soldaten.

“Verstrahlte

Wie viele Menschen sind an der Strahlung gestorben? Niemand weiß das - nicht mal annähernd. Die offiziellen Quellen gehen nach wie vor von ungefähr 30 Opfern aus, während in inoffiziellen Quellen von 300.000 und manchmal sogar von 400.000 Opfern die Rede ist.

Die endgültige Zahl werden wir zu unseren Lebzeiten nicht erfahren; auch unsere Kinder werden das nicht.

“Blick

Es ist einfacher, den materiellen Schaden zu beziffern. Es war eine furchtbare ökonomische Katastrophe für die Region, von der sie sich vielleicht nie mehr erholen wird.

“Verrottende

Hier klicken, um das Video von der radioaktiven Anlage herunterzuladen

Hier klicken für das Video „Verbrauchtes Land“

“Blick

DIE LIQUIDATOREN

Ein Denkmal für die Nacht von Tschernobyl. Für die Toten und die, die noch nicht geboren sind... in Stein gemeißelt als Mahnung an die Lebenden.

“Tschernobyl-Denkmal“

Diese Löschfahrzeuge haben ihre Garagen nie mehr erreicht, und die Feuerwehrleute, die darin saßen, sind nie nach Hause zurückgekehrt. Sie waren die ersten vor Ort und dachten, es sei ein einfacher Brand. Sie wußten nicht, womit sie es zu tun hatten.

“Garagen;

Die „Liquidatoren“ wurden angeheuert oder dazu gezwungen, bei den Aufräumarbeiten und der Beseitigung der Folgen des Unfalls zu helfen.

Die Sowjetunion hat als eine totalitäre Regierung nach dem Tschernobyl-Unfall viele junge Soldaten zu den Aufräumarbeiten geschickt, versorgte aber viele von ihnen nicht mit angemessener Schutzkleidung – oder auch nur Erklärungen über die möglichen Gefahren.

Über 650.000 Liquidatoren halfen im ersten Jahr bei den Aufräumarbeiten nach dem Tschernobyl-Unfall. Zu dieser Gruppe zählen auch diejenigen, die beim Bau der Schutzhülle über dem zerstörten Reaktor Nr. 4 dabei waren, die man als SARKOPHAG bezeichnet.

Bild: Liquidatoren auf dem Weg nach Tschernobyl.

“Liquidatoren

Soldaten sammeln auf dem Dach der Reaktoreinheit Nr. 3 die tödlichen Brocken radioaktiven Graphits ein, die von der Explosion umhergeschleudert worden waren, und werfen sie hinunter in den Kessel des zerstörten Reaktorkerns.

Zuerst versuchten sie es mit Robotern, aber die Technik wurde entweder von der hohen Strahlung lahmgelegt oder blieb im Schutt stecken. Dann schickten sie Tausende von Soldaten - Bioroboter.

“Soldaten

Der Job auf dem Dach war der schnellste von allen; er dauerte nur zwei Minuten. Viele Soldaten durften sich aussuchen, wie sie ihre Dienstverpflichtung erfüllen wollten, um sich anschließend aus der Armee zurückziehen zu können. Die eine Möglichkeit waren zwei Jahre im höllischen Kugel-, Raketen- und Bombenhagel in Afghanistan, die andere waren zwei Minuten in dem stillen und unsichtbaren Regen der Gammastrahlung auf dem Dach der Reaktoreinheit Nr. 3.

“Hubschraubereinsatz

Die Ruine des Reaktors Nr. 4

“Blick

Aus dem höllischen Inferno wurde eine Art Paradies für wilde Tiere - zumindest oberflächlich betrachtet. Sie vermehren sich ohne die Menschen, die sie jagen, aber noch niemand versteht ganz, wie die nuklearen Gifte ihr genetisches Material verändert haben, die Ausdehnung ihrer Wanderrouten und ihren Austausch mit den angrenzenden „sicheren“ Gebieten. Man hört von grotesken Mutationen, aber die offizielle Wissenschaft bestreitet so etwas.

Die Populationen von Wölfen und Wildschweinen wachsen schnell. Sie bewohnen verlassene Häuser und Ställe. Seltsamerweise sind sie hier nicht aggressiv. Vielleicht hat es etwas mit dem Futter zu tun, das für alle Lebewesen außer dem Menschen reichlich vorhanden, aber verseucht ist. Es ist nicht ungewöhnlich, daß man gelegentlich einen Wolf, einen Fuchs, ein Wildschwein oder Rotwild die Straße überqueren sieht.

“Verlassene

Das sind Prschewalski-Pferde. Jemand hat vor einigen Jahren ein paar von ihnen aus Asien mitgebracht; es hat ihnen hier gefallen, und jetzt gibt es im Tschernobyl-Gebiet drei Herden. Sie sind eine kräftige Rasse und immer in Bewegung. Sie haben ein urzeitliches Aussehen. Wenn sie im vollen Galopp vorbeiziehen, hat man das Gefühl, eine Herde des ausgestorbenen Eohippus zu sehen. Zoologen haben auch zwei amerikanische Bisons in dieses Gebiet gebracht, aber die Idee, sie hier zu züchten, hat nicht funktioniert. Der männliche Bison ist weggelaufen. Ich weiß nicht, ob er vor der Strahlung oder vor seiner Braut getürmt ist, aber er wurde zuletzt in Weißrußland, westliche Richtung haltend, gesehen. Vielleicht wollte er zurück nach Amerika.

“Przschewalski-Pferde“

Das ist die Stadt Tschernobyl.

Der Geigerzähler zeigt jetzt hier 20-80 Mikroröntgen an, je nach dem, wo man steht. Diesen Ort nenne ich eine Zombie-Stadt; die ursprüngliche Bevölkerung wurde im Mai 1986 evakuiert. Danach ist die Stadt oft gereinigt worden. Später wurde sie zum Stützpunkt für die Kernkraftwerksarbeiter.

Bei radioaktivem Niederschlag ist die Verteilung durch den Wind wichtig. Während er über einigen Orten den Tod sät, gewährt er anderen zufällige Gnade. Die Stadt Tschernobyl befindet sich nur zwölf Kilometer (Luftlinie) südlich des Reaktors. In den ersten Tagen nach dem Unfall waren die Strahlenwerte hier nicht hoch. Bemerkenswert, denn zu diesem Zeitpunkt hatte die Strahlung von Tschernobyl bereits Nordeuropa erreicht. Der Unfall war immer noch ein Geheimnis, und so begann man in Schweden, in den eigenen Kernkraftwerken nach einem Problem zu suchen. Der Wind drehte am 1. Mai, und morgens wurden hier 24 Milliröntgen pro Stunde gemessen. Die radioaktiven Wolken trieben durch diesen Ort, töteten ihn und zogen weiter nach Kiew, um an unserer berühmten Milliröntgen-Parade zum Tag der Arbeit teilzunehmen.

“Ortseingang

Wir fahren durch.

“Ortsausgang

Das ist das Wahllokal im Dorf.

“Vor

Eine Wahl mit einem einzigen Kandidaten einer einzigen Partei war eine langweilige Angelegenheit, deswegen war die Wahlbeteiligung sehr niedrig. So war das, bis die lokalen Beamten die Idee hatten, freie Getränke für die Stimmenabgabe anzubieten. Danach war das Wahlvolk auf einmal sehr an der Politik interessiert.

“Im

Die rechte Tür ist der Raum mit den Freigetränken, die linke Tür führt zum Wahlraum. Ich weiß nicht, ob die Behörden den Tag nach der Wahl zum Feiertag erhoben, damit die Wähler Zeit zum Ausnüchtern hätten, bevor sie zur Arbeit zurückkehrten. Der alte Mann, der mir diese Geschichte erzählt hat, konnte sich nicht erinnern.

“Kommunistische

Das Atomkraftwerk

Für gewöhnlich verleitet der piepende Geigerzähler auf diesem Streckenabschnitt dazu, einen höheren Gang einzulegen, um dieses Gebiet möglichst schnell zu durchqueren. Die paar Bäume vor mir heißen Roter oder „Zauber“-Wald. 1986 glühte dieser Wald rot vor Radioaktivität. Man hat die Bäume gefällt und unter einem Meter Erde vergraben.

Die Meßwerte des Asphaltpflasters betragen 500 bis 3000 Mikroröntgen, je nach dem, wo man steht. Das ist 50- bis 300mal höher als die Strahlung der normalen Umgebung. Wenn ich noch zehn Meter weiter gehe, wird mein Geigerzähler Höchstwerte anzeigen. Wenn ich ein paar hundert Meter Richtung Reaktor liefe, betrüge die Strahlung drei Röntgen pro Stunde, das ist 300.000mal höher als normal. Wenn ich bis an den Reaktor herangehen würde, dann würde ich heute nacht im Dunkeln leuchten. Vielleicht heißt der Wald deswegen Zauberwald. Es ist schon eine Art Magie, wenn man mit einer Motorradlederjacke reingeht und als Ritter in strahlender Rüstung wieder herauskommt.

“Der

Das ist das Gelände des Atomkraftwerks. Der Geigerzähler zeigt hier auch 500 - 3000 Mikroröntgen pro Stunde.

“Das

Das Kraftwerk wurde im Jahre 2000 für immer geschlossen. Bald muß ein neuer Sarkophag gebaut werden, weil der ursprüngliche in Eile hochgezogen wurde und langsam zerfällt.

Bisher ist nur eine geringe Menge an Strahlung nach außen gedrungen. Die meisten Wissenschaftler glauben, daß noch über 90% unter dem Sarkophag ruhen. Die Reste des radioaktiven Brennstoffs im Inneren tragen den Namen „Elefantenfuß“, wegen ihrer charakteristischen Form. Ungefähr 190 Tonnen Uran und eine Tonne des wirklich gefährlichen Plutoniums sind immer noch dort – wenn der große, böse atomare Elefant jemals seinen Fuß vor die Tür setzt, haben wir ein Riesenproblem...

“Der

Das ist der letzte Kontrollpunkt. Um hier weiterzukommen, braucht man einen Strahlenschutzanzug und eine spezielle Genehmigung... So neugierig bin ich nicht.

Unsere Pyramiden

Der Sarkophag wird für mindestens 100.000 Jahre radioaktiv bleiben. Das Alter der ägyptischen Pyramiden beträgt 5000 bis 6000 Jahre. Jede kulturelle Epoche hat etwas für die Menschheit hinterlassen, etwas Unsterbliches, wie die judäische Epoche die Bibel, die griechische Kultur die Philosophie. Die Römer trugen zur Gesetzgebung bei, und wir – wir hinterlassen diesen Sarkophag, eine Konstruktion, die alle anderen Wahrzeichen unserer Epoche überleben und vielleicht länger als die Pyramiden bestehen bleiben wird.

“Geigerzähler-Anzeige

Mit einem Sprung von vier Kilometern sind wir an den Toren der Geisterstadt. Sie wurde 1970 gegründet und befindet sich vier Kilometer nördlich vom Reaktor. 48.000 Menschen lebten hier und liebten ihre Stadt. 1986 war das ein moderner, grüner und behaglicher Ort zum Leben.

Die Geisterstadt - Pripjat

“Pripjat

Stille

Diese Stadt könnte ein attraktiver Ort für Touristen sein. Einige Reisebüros haben versucht, Reisen hierher zu arrangieren, aber die erste Gruppe von Touristen fand die Stille nervenaufreibend und geradezu gespenstisch. Und das ist sie in der Tat. Sie hatten 1200 Hryvnas für einen zweistündigen Ausflug bezahlt, und nach rund 15 Minuten wollten sie in die Außenwelt zurück. Die Stille hier ist ohrenbetäubend.

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