Elena Filatova - Die Geisterstadt (Teil 2)
Das ist die Residenz der Stadtaufsicht.
Auf den ersten Blick scheint die Geisterstadt eine normale Stadt zu sein. Es gibt einen Taxistand, ein Lebensmittelgeschäft, Wäsche hängt auf dem Balkon, und die Fenster sind offen. Aber dann sehe ich auf einem Gebäude eine Parole: „Die Partei von Lenin führt uns zum Triumph des Kommunismus“... und ich begreife, daß diese Fenster im April 1986 geöffnet worden waren, um die Frühlingsluft hereinzulassen.
Es gibt viele Orte, die baufällig sind oder große Mengen intensiver Strahlung angesammelt haben. Es gibt Plätze, wo sich niemand hinzugehen wagt. Einer dieser Orte ist der Rote Wald, ein anderer der Friedhof der Geisterstadt. Die Verwandten der Menschen, die dort begraben sind, können sie nicht besuchen, weil außer den Menschen auch der größte Teil des radioaktiven Graphits des Reaktorkerns dort begraben wurde. Es ist einer der tödlichsten Orte auf der Erde.
Der Radladen
Eigentlich klar, daß ich als erstes hierher kommen würde.
Hier gab es einmal alles fürs Motorrad.
Kein Zweiradladen der Welt hätte eine Katastrophe wie die von Tschernobyl überstehen können.
Das ist das Preisschild für ein Chezet-Motorrad, 26 PS, 3,43 Liter Hubraum. Preis = 1050 Rubel. Eine Chezet! Das war der absolute Traum aller jungen Biker in der Sowjetunion. Ich erinnere mich, wie ich als Schulmädchen mit einer Horde wilder Jungs herumzog und vor dem Schaufenster des Motorradladens stand... Wir malten uns aus, was wir mit einer 26-PS-Maschine alles machen könnten. Opas lahmer Dinosaurier hatte gerade mal schlappe 15 PS... Aber wie zum Teufel hätten wir uns jemals so eine Maschine leisten können????? Der monatliche Durchschnittslohn lag bei gerade einmal 180 Rubeln.
Als die Alarmsirene am Sonntagmorgen losging, brach eine Massenpanik aus. Die Polizei wurde ebenso wie alle anderen evakuiert; Banken und sogar Schmuckgeschäften schenkte kaum jemand Beachtung, aber dieser Laden war innerhalb einer Stunde leergeräumt. Im Mai begann die Polizei, auf Plünderer zu schießen, als bei den Pfandleihern von Kiew radioaktive Fernsehgeräte auftauchten.
Hotel
Hotel Polissia.
Polissia ist der Name der Region, in der das Tschernobyl-Gebiet liegt.
Hier sind wir am Empfang des größten Hotels einer Geisterstadt – „Hotel California“ geht mir nicht aus dem Kopf.
In diesem Raum wachsen Bäume durch einen Steinfußboden.
Das hier ist der Festsaal. Er wurde für Hochzeiten genutzt, für Geburtstagsfeste und Betriebsfeiern. Hier sind mehr Zeichen von Leben als irgendwo sonst in der Geisterstadt.
Wohnungen
Es ist vollkommen sicher, wenn man sich in der Geisterstadt unter freien Himmel aufhält. Die wirkliche Gefahr liegt im Inneren der Häuser.
Ohne Strahlungsmesser dort hineinzugehen, das wäre wie auf Skiern durch ein Minenfeld zu wandern.
Alle Türen stehen offen. Hinter ihnen klingen noch die fernen Echos des Lebens, das hier einmal gewesen ist.
Neuanfang
Kinder mußten sich von ihrem Lieblingsspielzeug trennen. Die Menschen mußten alles zurücklassen, von den Fotos ihrer Großeltern bis hin zu ihren Autos. Unglaublich – die Leute hatten Wohnungen hier, Motorräder, Garagen, Autos, Landhäuser, sie hatten Geld, Freunde und Verwandte. Die Leute lebten hier. Jeder in seinem kleinen Lebensraum. Und dann, innerhalb einiger weniger Stunden, fiel ihre ganze Welt in Scherben.
Nach ein paar Stunden Fahrt in einem Armeefahrzeug mußten sie unter die Dusche, die Strahlung abwaschen. Dann traten sie in ein neues Leben, nackt, ohne Zuhause, ohne Freunde, ohne Geld, ohne Vergangenheit und mit einer sehr zweifelhaften Zukunft.
Foto von der Evakuierung. Frühling 1986.
Das sind Motorradfahrer bei einer Parade in der Stadt, 1985. Sie fahren alte, schwächliche Sowjet-Maschinen. Oh, es hat sich viel geändert seit 1985, besonders die Technologie. Meine große Ninja hat vermutlich mehr PS als alle von diesen zusammengenommen.
Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen ist es, Vollgas zu geben und die Stille der leeren Stadt mit dem Brüllen eines verwundeten Sauriers zu zerreißen... und dann den Motor abzustellen und zu hören, wie die Geister den mächtigen Vierzylindermotor verwünschen.
Und ihre Flagge ist noch da...
Dieser ganze knallbunte Mist war für die Parade am Ersten Mai bestimmt.
Das Postamt ist für die Parade am Tag der Arbeit geschmückt.
Der Erste Mai ist in dieser Stadt nie gekommen. Am 27. April wurde die gesamte Bevölkerung evakuiert, und seitdem hat diese Straße keine Paraden mehr erlebt... und wird es wahrscheinlich auch nie wieder.
Das Geistercafé „Pripjat“
Damals in der UdSSR...
Das war die Stadt in den frühen 80ern.
So sieht sie heute aus. Der Park ist der am stärksten strahlende Ort in der Stadt, weil er direkt vor dem Atomkraftwerk liegt. Man erzählt, daß Leute um ihr Leben rannten, als sie ihre Kinder im radioaktiven Rauch suchten... Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber ich weiß, daß am 27. April, dem Tag der Evakuierung, der mittlere Strahlungspegel in der Stadt etwa bei einem Röntgen lag!
Die Geisterstadt ist ein modernes Pompeji. Hier ist die Sowjetära vollständig erhalten – seit Jahren eingelegt in Strahlung.
Bei jedem Schritt auf die kleinen Wagen zu zeigt mein Geigerzähler 100 Mikroröntgen mehr an.
Auf Russisch heißt ein Riesenrad „Teufelsrad“. Das hier sieht jedenfalls wie eines aus.
Auf dem Karussell lesen wir 103 Mikroröntgen pro Stunde. Dieser Ort ist ein Symbol dafür, was hier wirklich geschehen ist.
Das hier ist das höchste Gebäude der Stadt. Am Tag der Katastrophe kamen viele Leute auf das Dach, um sich die schöne, strahlende Wolke über dem Atomkraftwerk anzuschauen.
Nach oben
Wir steigen auf das Dach dieses Gebäudes.
Die Fahrstuhltüren sind für immer offen.
Jemand hat seine Post nicht geholt – ein paar Zeitungen und die Aprilausgabe der Zeitschrift „Fischen und Jagen“. Vielleicht waren sie nicht in der Stadt. Was es auch war – sie sind nicht zurückgekommen.
Auf dieser Wand hat jemand seine Gefühle verewigt: Wowik + Tanja = Liebe. Ob sie überlebt haben? Und wenn, wo sind sie jetzt? Vielleicht gelangen sie auf diese Seite und sehen dieses Bild. Und erinnern sich an einen glücklichen Tag.
Dieser Mann hat seine Zeitung nicht bekommen. Die Nachrichten waren plötzlich unwichtig. Der Kalender zeigt an, daß Samstag, der 26. April ein besonderer Tag war. Wenn man sich die Dinge anschaut, die er an der Tür zurückgelassen hat, hat er wohl gern geangelt. Die Sonntage und die Jahreszahl auf diesem Kalender waren rot gedruckt und sind nun verblaßt.
Vielleicht ist er angeln gegangen und konnte dann nicht zurück. Wie er sich wohl gefühlt haben mag – vermutlich, als wäre sein Leben in zwei Teile zerschnitten worden. In einem stehen deine Hausschuhe noch unter dem Bett, die Fotos deiner ersten Liebe liegen auf dem Klavier... Im anderen bist nur du selbst, mit deinen Erinnerungen und einer Angelrute.
Auf dem Dach
"und wer auf dem Dach ist, der steige nicht hinunter, etwas aus seinem Hause zu holen; und wer auf dem Feld ist, der kehre nicht zurück, seinen Mantel zu holen. Wehe aber den Schwangeren und den Stillenden zu jener Zeit!"
(Matthäus 24, 17-19)
Ob es dieses Dach war, über das Matthäus geschrieben hat? Von hier oben muß die leuchtende Wolke über dem Reaktor ein wunderbarer Anblick gewesen sein.
Hier oben auf dem Dach des höchsten Hauses in der leeren Stadt hat man das Gefühl, vollkommen allein zu sein auf der Welt – genauso wie diese ganze Stadt.
Man sagt, daß in dieser Stadt die Zeit stillsteht. Vielleicht weil die Uhren hier nicht die Zeit messen – sie messen den Strahlungspegel.
Es gibt keine Telefone. Auch Mobiltelefone funktionieren nicht.
Am Tag nach dem Unfall hatte man von dieser Stelle der Brücke aus einen guten Blick auf das klaffende Loch in der Hülle des Reaktors, die von der Explosion zerrissen worden war. Viele Neugierige kamen hierher, um sich das anzusehen, und nahmen ein Bad in der tödlichen Strahlung, die direkt aus dem leuchtenden Reaktorkern drang.
Das ist alles, was vom Schwimmbad „Azur“ übrig ist.
Beethovens Mondscheinsonate liegt zersplittert auf der Straße.
Der Kindergarten
Diese Bilder stammen aus dem Kindergarten der Stadt. Ich werde sie nicht kommentieren, sie sprechen für sich. Sie erzählen die Geschichte der Geisterstadt auf eine Weise, wie Worte das nicht könnten. Da gibt es hunderte kleiner Gasmasken, das Tagebuch einer Erzieherin mit der letzten Eintragung, daß der Samstagsspaziergang aufgrund eines unvorhergesehenen Notfalls ausfallen mußte.
Das Feuer des Prometheus
Diese Skulptur stand im Zentrum der Stadt; nach dem Unfall wurde sie vor dem Atomkraftwerk aufgestellt. Der Titan Prometheus stiehlt den Göttern das Feuer und schenkt es den Menschen...
Dezember 2003.