Alter Bienenstock. Die Bienen sind ausgeflogen.
Ich habe mich oft gefragt, was aus den Katzen und Hunden wurde, die die Leute auf den Dörfern gehalten hatten. Das Vieh wurde einfach geschlachtet ... Die Katzen verwilderten, und ihre Nachkommen leben nun in den Wäldern.
Dieses Dorf heißt „Weiße Küste“. Weiße Küste liegt dicht an der Hauptstraße, und ein paar Leute wohnen noch hier.
Wenn ich sage, daß ein Dorf noch bewohnt ist, heißt das normalerweise, daß noch zwei bis fünf Leute übrig sind. Ein Dorf mit 20 bis 30 Einwohnern ist nach Tschernobyl-Standard, eine Großstadt.
Mahnmal des Unbekannten Soldaten des Großen Patriotischen Krieges in einem namenlosen Dorf in Tschernobyl.
Das Reich Pluto
Verglichen mit Plutonium 239 stehen die übrigen chemischen Elemente da, wie ein König auf der Operettenbühne im Vergleich zu einem echten Monarchen, weil das Plutonium über sie für viele Tausend Jahre herrschen wird. Es ist extrem giftig, chemisch hoch reaktiv und seine Halbwertszeit liegt bei 24000 Jahren.
Glücklicherweise wurde Tschernobyl mit Uran betrieben. Sämtliches Plutonium, das man aktuell in der Region nachweisen kann, ist ein Umwandlungsprodukt dieses Urans; wie viel das jedoch ist, das hängt auch von dem Alter des Reaktors ab. Einige sagen, dies sei nur eine kleine Menge. Allerdings wir benötigen auch nicht wirklich viel: Hochgerechnet rund ein englische Pfund (1 lb = 453 Gramm), flächendeckend verteilt, ist ausreichend, um die gesamte Menschheit umzubringen.
Plutonium wird in Atombomben verwendet und Plutonium ist Brennstof für den Schnellen Brüter. Passenderweise ist das Plutonium nach Pluto benannt, dem Gott der Toten und dem Herrscher über die Unterwelt.
Americium
Manche Dörfer sind schwer verstrahlt. Die Strahlung hier ist sogar noch höher als dicht beim Reaktor.
Wenn wir den Geigerzähler auf der Straße ablesen, dann auf dem Gras, und die beiden Messungen vergleichen, dann strahlt das Gras achteinhalbmal stärker als der Asphalt, weil sich die Strahlung mit der Zeit in lebenden Organismen konzentriert. Die Quelle dieser Strahlung ist Americium.
Am Anfang war es hier nicht allzu schlimm. Dieses Gebiet war mit Plutonium-241 verseucht, und eine seltsame Laune dieses Elements ist, daß es zu Beginn nicht sehr stark strahlt. Es wartet ruhig 14,4 Jahre ab und zerfällt erst dann in Bestandteile, zu denen Americium-241 zählt. Dieses Element erzeugt starke Gammastrahlung,echte Kanonenkugeln verglichen mit der „Schrotladung“ von Partikelstrahlung, die das ursprüngliche Plutonium abgibt.
Was heute im Kino läuft und die Filme, die demnächst hier gezeigt werden – das stand einmal auf der Tafel am Gemeinschaftshaus. Der nächste Kassenschlager wird noch ein paar Hundert Jahre auf sich warten lassen.
Auch in diesem Klassenzimmer wird nichts mehr unterrichtet. Die einzige Lektion, die hier erteilt wird, ist, daß die Halbwertszeit von Americium-241, dem Kind von Plutonium-241, bei über 400 Jahren liegt.
Unsere Nachkommen in ferner Zukunft werden mit den Folgen dieses Verfallszyklus leben müssen, wenn unsere Knochen längst zu Staub zerfallen sind.
Fotos aus inoffiziellen Quellen
Bauern in kontaminierten Dörfern berichten von Kälbern, die mit vier Hörnern zur Welt kommen, von Ferkeln mit Augen groß wie Wassermelonen.
Ich weiß nicht, wie verläßlich solche Informationen sind, aber wenn ich durch eines dieser Dörfer kommen sollte, werde ich frisch geladene Batterien für meine Kamera dabeihaben.
Der tragischte Teil der Geschichte sind die Kinder von Tschernobyl.
Viele solcher Fotos erscheinen in Zeitungen und werden im Fernsehen gezeigt. Manche sagen, das seien Kinder aus Tschernobyl, andere entgegnen, solche Kinder habe es auch schon vor dem Unfall gegeben, oder es seien vielleicht Kinder von Drogensüchtigen oder Alkoholikern, die es hier sehr häufig gibt.
Es fehlt an Informationen über Mißbildungen bei Menschen; offiziell gibt es gar keine. Der Mangel an verläßlichen Angaben führt zu Gerüchten, Mißtrauen und Panik.
Ich glaube, das alles sollte Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen sein und nicht reine Spekulation. Ob sie nun Kinder von Tschernobyl sind oder nicht – sie sind arme Kinder, deren Leben unerträglich schwer sein muß.
Poleskoje, eine ruhige Stadt
Zum Ende unserer Reise besuchen wir die Stadt, die das Verwaltungszentrum für die Region Polissia war – heute die Hauptstadt vom Land der Wölfe.
Das ist der Sowjetbau der Stadt.
Wer in der Sowjetzeit ein Haus bauen wollte, mußte sich an strikte Standards halten. Nur gut betuchte Leute mit entsprechenden Verbindungen konnten ein nicht-standardkonformes (also größeres) Haus bauen. 70 Jahre lang hat die kommunistische Partei versucht, alle Menschen sozial gleich zu machen, aber sie ist gescheitert. Es sind immer noch einige Häuser größer als die anderen.
Tschernobyl machte alle gleich, in einem Tag. Jetzt gibt es keinen Unterschied mehr zwischen den Häusern der normalen Leute und denen der Parteioberen.
Hier haben einfache Leute gewohnt.
Von diesem Haus sind nur der Schornstein und der Kühlschrank geblieben.
Die Innenstadt von Poleskoje
Die Innenstadt von Poleskoje sieht aus wie nach einer Atombombe, eine Mischung aus Stalingrad 1943 und Hiroshima 1945.
Die Fahrt ist ein Slalom zwischen Bäumen, die aus dem Asphalt wachsen, und offenen Kanaldeckeln.
Das hier war ein Geschäft für Spielzeug und Kinderkleidung.
Hier überprüft mein Vater den Strahlungspegel im Laden. Er ist jetzt pensioniert, aber immer noch interessiert an Umweltfragen.
Wie viele Leute glaubt er, daß hier eines Tages wieder Menschen leben können. Poleskoje ist sauberer als andere Orte; der mittlere Strahlungspegel liegt unter 20 Mikroröntgen pro stunde. An ein paar Stellen sind es immer noch 50 Mikroröntgen pro stunde. Wer im Sommer reisen will, muß diese Zahlen verdoppeln. Im Sommer ist die Strahlung überall höher.
Manchmal treibe ich mich einfach so mit meinem Vater im Ödland herum. Der Geigerzähler, den er benutzt, stammt aus dem Jahr 1986. Nach dem Desaster von Tschernobyl gab es einen Versorgungsengpaß für Strahlungsmeßgeräte, und in der allgemeinen Panik ließen die Behörden Geräte mit einer Reichweite von nur 100 Mikroröntgen auf den Markt werfen. Solche Geigerzähler waren vollkommen nutzlos; in Tschernobyl war die Strahlung hundertmal höher als das – mit diesen Geräten war sie gar nicht meßbar. In dieser Zeit lag der Strahlungspegel in meiner Heimatstadt, in Kiew, bei etwa 1000 Mikroröntgen pro Stunde... Erst jetzt, nach 20 Jahren, werden diese alten Geräte endlich nützlich.
Die Behörden versuchten, der Stadt neues Leben einzuhauchen und sie zu retten. Man entfernte den Asphalt und baute neue Straßen.
Einige Gebäude wurden abgerissen, neue Krankenhäuser und Schulen errichtet.
Man entfernte sogar Wasserleitungen und baute eine neue Kirche...
Diese Maßnahmen reduzierten den Strahlungspegel, aber nicht genug, um die Stadt bewohnbar zu machen...
Anscheinend sind alle kontaminierten Orte verdammt – früher oder später verlassen die Menschen sie komplett.
Poleskoje ist eine sehr alte Stadt; auf alten Karten findet man sie unter dem Namen Mogilne – was auf Ukrainisch „am Grabe“ bedeutet. Der Grund dafür ist, daß Großherzog Igor von Kiew hier im Jahre 945 nach Christus getötet und begraben wurde.
Seit damals hat die Stadt viele Namen getragen; sie überlebte die Invasion der mongolischen Horden im 13. Jahrhundert, die große Hungersnot von 1933, den Großen Vaterländischen Krieg von 1941-1945, und dann starb sie langsam an der tödlichen Strahlungsdosis, die in der Nacht des 26. April 1986 aus Tschernobyl kam.
Die Bewohner kämpften um das Leben ihres Heimatortes, und im Jahre 1991 lebten noch zwölftausend Menschen hier. Aber als diese öffentliche Uhr 1999 stehenblieb, lag die Stadt schon in den letzten Zügen, und bald waren auch die letzten 1000 Bewohner fortgegangen.
Jetzt hat sich endlich das Schicksal ihres alten Namens erfüllt.
Auf den Dächern wachsen Bäume. So kennzeichnet die Natur Orte, in denen das unterste zuoberst gekehrt ist.
Es gibt keinen Weg, diesen jüdischen Friedhof zu betreten.
Aufgewühlte Erde zeigt, daß bereits wilde Tiere hier waren.
Es ist etwas sehr Trauriges an dieser Stadt. Tausend Jahre haben Menschen hier gelebt, große Geister haben ihre Ideen diskutiert, normale Leute das Tagesgeschehen, kleine Geister die anderen... Man hört hier keine Stimmen mehr, Wildschweine durchwühlen die Wohnstätten, Wölfe beobachten das verlassene Gebiet einer Stadt, die vom Menschen erbaut und zerstört wurde, ein aufgegebenes Revier, das jetzt ihnen gehört...
Wir verlassen Poleskoje und fahren nach Hause. Die Strahlung hier ist genauso hoch wie an der Grand Central Station in New York, wo die Radioaktivität der Steine bis zu 50 Mikroröntgen pro stunde erreicht.
Das Gefühl, wenn man mit dem Motorrad durch das Land der Wölfe fährt, ist etwas völlig anderes als bei einer Autofahrt. Mit dem Auto bist du nur Tourist. Mit dem Motorrad bist du ein Wilder, hast du die Macht, bist selbst Teil einer Wildnis.
Wenn von der Toten Zone die Rede ist, ist üblicherweise ein Gebiet von 30 Kilometern um den Reaktor herum gemeint.
Was ist mit diesen Städten und Dörfern? Sie liegen im Umkreis von 60 Kilometern um das Kraftwerk.
Das Land der Wölfe ist größer, als die meisten denken. Und es wächst weiter. Heute breitet es sich 300 Kilometer von Süden nach Norden und 100 Kilometer von Osten nach Westen aus.
Natürlich leben noch Menschen an einigen Orten, aber hier findet man keine jungen, wohlhabenden Leute mit glücklichen Gesichtern. Meistens sind es ältere Menschen, die den Rest ihres Lebens in der Heimat verbringen wollen... Manche Gegenden sind sauber und ungefährlich, aber die Infrastruktur der Region ist zusammengebrochen, es gibt keine Jobs und nichts, was junge Leute anziehen würde. Das ganze Gebiet siecht dahin.
Die Karte unten zeigt das ganze Gebiet, das durch das Kernkraftwerk Tschernobyl mit Strahlung verseucht ist.
Man sieht, daß das Land der Wölfe zwei Teile hat. In meinen Berichten „Geisterstadt“ und „Land der Wölfe“ waren wir nur im südlichen Bereich, der in der Ukraine und in Weißrußland liegt.
Der nördliche Teil liegt in Weißrußland und Rußland. Er ist deprimierend groß. Vielleicht berichte ich eines Tages von diesem Land.
